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Mittwoch, 2. Mai 2012

ERSTAUNTE AUGENBLICKE.Tagebücher1989-2012, I


Dieter Schlesak


                       
                  ERSTAUNTE  AUGENBLICKE
                                                     Tagebücher  1989- 2012


             Naive Zeit: Die Siebziger Jahre: Stimmungen




9./15. Mai 1989

SÄTZE ZUR WAHRHEIT NACH DEM ÜBERHOLTEN ENDE

Mauer, Grenze allein erzeugt die Sehnsucht. Auch in der Liebe zu Fremden, die werden so nah gebracht, die Liebsegschichte Ganz stark wiederholt das ganz Ferne wo wirklich, Schrecken des Abschieds, Tod als gelebt. Gibt es nicht mehr. Dieses Abenteuer.
Das kleinere Übel: Grenze (ist mir genommen worden) jetzt bleibt das große Übel die Banalität und der Tod.

Zur WILDEN DESILLUSION Szenen dazu. Einer erfährt die Wahrheit (zufällig?)
            Desillusion auch "alles so , wie es ist" - die Gedichte dazu.                                                                      


Dezember 89.
(Auch aus Essay, Preisfrage)
Es ist schwer zu glauben nach diesem Jubel, daß 89 ein Einbruh in unsere Zeit geschehen ist, daß auch dies - für unsere Welt Illusion war. Die erhoffte Ausnahme nicht gilt. Jene >Front< aus Exkom­muni­sten und  >zufällig< zu ihnen gestoßenen Revolutio­nären, die in je­nem Machtva­kuum die Macht übernahm, im Namen der Revolution, so schiens, alle trugen Trikolore-Arm­binden, hat uns hypnotisiert.  Ich erinnere mich noch, wie aufge­bracht ich war, als ich in der fran­zösi­schen Presse von einem Staatsstreich las, der von langer Hand vorberei­tet,  sich nun den Sturm der Revolution zu Nutze mache, um das zu errei­chen, was er bisher nicht gewagt hatte, offen zu tun.
  Das Absurde geht um, ist wahr und real. Die kleine und die große Täuschung? Sie erst schaffen jene notwendige bittere Distanz zum >Erlebten,< das blind macht.

 Es hat sich gezeigt, daß Mauern, Stacheldraht, Wachtürme, Zensur und Polizei nichts mehr ausrichten können, antiquiert sind. Ebenso die Existenz eines isolierten Staates, einer Nation, ja einer Staatengemein­schaft unmöglich ist. Raum und Zeit sind im Zeitalter der Kommunikation, der elektronischen Medien aufgehoben, es gibt keine Distanzen mehr. Mit Lichtgeschwindigkeit wird der Ort gewechselt, Nachrichten überschreiten jede, auch die bewachte Grenze. Die Rumänen, die Ostdeutschen, die Tsche­chen waren genau informiert über die revolutionären Prozesse in den Nachbarländern. Und in Rumänien war dann die Revolution gelenkt worden vom  Fernsehen,  dieses war die strategische Zentrale des Auf­standes. Unsere elektronischen Haustiere haben die Öffnung erzwungen. Auch die Herrschaftslogik, dann sogar die Logik und das Realitätsbe­wußtsein in Frage gestellt; was da geschah, liegt an der Grenze unserer Vorstellung.
 Diese Grenze  unserer Vorstellung und  unseres Denkens  wird nun auch durch historische Prozesse wie diese Re-Volutionen deutlich und sichtbar. Das bisher Unmögliche ist plötzlich möglich. Wir meinen zu träumen. Zeit, Raum, Kausalität, alte gesicherte "Realitäten" zerbrechen. Was sind sie nun anderes, als nur noch Phantome. Das Undenkbare wird plötzlich legitimiert durch reales Geschehen. Man sollte sich auch im eignen Leben darauf einstellen. Bisher war es der Tod, der daran mahnte. Jetzt ist es auch die Zeit, sogar der Alltag, der damit umgeht.
Und plötzlich wird auch Schreiben anderes. Welcher Stil ist jetzt notwendig? Der extrem infragestellende, sicherlich, wie ich dann bei der Übersetzung der Paradoxie und des Absurden ins Gedicht, bei unserer Arbeit bei Francesco D. bemerkte.  (Was  Alt  IST  fällt uns/ Heim, neu wie/ die Einfachheit , das Leben.// So liest mit  Doppelbrille  auf/ der Kummer, / nicht mehr da zu sein,// was war: und nicht/ vergehen will . // So kommen wir/ im Untergang nach Haus. ) Also der komplizierteste Stil, der Sprache  selbst bricht sich, bricht sich auf, um zur Darstellung dieses historischen Augenblicks zu kommen, der wieder frei ist für das Unerwartete,für die Überraschung und das  Undenkbare.  Dann aber auch der nüchterne, in­­for­ma­tive  Realitätsaugenblick, Nachrichten, aus denen eine Stru­ktur entsteht!

8. Januar 90. Das Undenkbare ist wirklich, wir meinen zu träumen. Der Diktator hingerichtet, jetzt sind seine Schlächter dran, die Securitate. Auch sie, wie alle  Ereignisse der Revolution, vorgeführt vom Freien Rumäni­schen Fernsehen, wir nehmen Teil, live. In Sträf­lingskleidung, stumpf, apa­thisch der finstere Blick der Securitateleute in die Kamera, sie sehen nicht weg, in ihren Augen ist eine angestrengte sadistische Leere. Leer: so sollte das Land seien, friedhofsleer, einbeto­niert; Stacheldraht, Schüsse, Wach­türme; alles erstarrt, der eingesperrte, der Lügenzustand auch noch beju­belt. Öffnung aber ist das Gebot der Gegenwart: Gorbatschow war der Katalysator. Die östliche Enklave der Angst, Enklave der vom Staats­ter­ror verhexten Hirne war unhaltbar; Fern­­sehen, Radio sind schneller als jede Polizei, überschreiten die schärfst­bewachten Grenzen, die Erde ist durch die Nachricht eine geworden: Information war im Osten Revo­lution.

Nachmittag. Aufnahme beim lokalen Radio. Es geschieht etwas bisher Undenkbares im Osten, das auch hier jeden angeht, und berührt in jedem  Italiener die Sehnsucht nach radikaler Lebens­änderung. Viel mehr noch als die Leute  im "neuen"  West­deutsch­land. Erstaunlich.





"Heimfahrt" 19. März 90

Nach der Landung in Bukarest war ich erstaunt, daß in Otopeni die Abfertigung so zivil verlief und ohne jede Reibung vor sich ging,  wie an irgendeinem  fremden Flughafen, dachte ich. Alles viel zu trivial. Doch die heiße Welle in mir war da, ich wollte sie auflösen, es trieb mich zur Telefonzelle. Und ich versuchte  Ioana zu erreichen. Doch niemand hob ab, auch kein Anrufbeantworter meldete sich. Ich sah Ioanas feines Gesicht vor mir, die langen Wimpern hoben und senkten sich wie ein großes Insekt, dahinter schimmerten die dunklen Augen, jene Augenweiße, in der mein Bild fest wird, und mein Blick gleitet vom Haar ab, den Körper hinab, dies Fluidum, das die Gestalt auflöst, wie eine dichte Wolke von Parfüm, Iona nur noch in mir, ein Reiz, der sich auf meinen ganzen Körper verteilt. Ich traf sie dann am nächsten Abend.  - Ioana ist schön und sie ist elegant gekleidet, fast männlich, ein Tailleur, grauer, gestreifter Stoff, wo hat sie hier nur den Schneider her? Ich trinke schnell ein Glas Wein aus, zwinge mich, etwas mehr Ausstrahlung zu entwickeln, auf sie einzugehn. Frage sie nach ihren Erlebnissen während der Revolution. Sie  ist natürlich, kameradschaftlich und warm wie immer. Ja, sagt sie, mich hat das alles sehr aufgewühlt. Vor allem verändert. Es war ein merkwürdig doppelgleisiges Bewußtsein im Dezember. Das bisher Gewohnte lief neben einem neuen Zustand her, ähnlich wie bei einem Todesfall, nur war es ein freudiges Erschrecken, das nicht abreißen wollte. Die Toten, die kann ich nicht mehr vergessen. Und ich habe in jenen Nächten viel geträumt. Einer dieser Träume ist fast prophetisch. Ich war mit drei Freunden auf einem Lastwagen zu einem "Ereignis" unterwegs.  Doch bevor wir ankamen, begann der Wagen rückwärts zu fahren, schneller und schneller, ich sah, wie er sich hob, eine schiefe Ebne bildete, und wir mußten uns an den Seitenplanken festhalten, um nicht herunterzufallen. Doch sie fielen alle herunter. Und schließlich stand ich allein da. Die andern waren vom eignen Wagen überfahren worden. Große Tränen rannen ihr über die Wangen.





25.1. 92 Iris Radish in der Zeit über Anderson. Ein "hochmoderner Mensch". Eben, ohne Skrupel. Ohne Moral. Hocheffizient. Das iost alles. Orwell eben. Effizienter noch als ein Westmensch und Geschäftsmann. Endler: durch diese Stais-Auarbeitung wird der DDR-Mensch " für die Gesdchäftswelt präpariert."
  Er wird in den neuen Schriftstellerbervand nicht eintreten, denn da wird wieder mit neuem Herrschafts- und Geheimwissen gearbeitet.
  Anderson. Pathologisch sei es, frei sein zu wollen. Der Mensch sei nie frei. Ihm ginge es darum, seine "Identität produktiv zu verlieren." So könnte auch ein SS-Mensch gewesen sein. Systemvergl.eich geht. Dreigroschenoper, Maifia unTergrund auf sozialistisch.
  Der Unterschied: dcer Staat läßt es nicht nur zu, sondern beauftragt. Im Westen ist der Staat dazu da, um Kontrolle und Gewaltenteilung zu üben. Trtzdem ist er ebenso mit der Unterwel unappetitlich verquickt, in Italien besonders. Aber auch USA.
  Unterschied im positiven, welche Mafia-Geschäftswelt könnte an Hand von Künstlern oder gar Lyrikern analysiert werden!

  Und eines bleibt, von mir selbsterlebt: das Schmierige: aus Angst, sich anzubiedern, nützlich sein zu wollen, zu dienern, wenn auc nur vorgetäuscht, um zu entkommen!


Zwischen Nathan  und Shylock, ein Dialog?

9. Mai 90. Das Datum entspricht. Es ist die Zeit nach dem Scheitern der Utopie, wo auch "der Dichter", der bekanntlich Jude ist, nach Martina Zwetajewa, zitiert nach Paul Celan. kaum Nathan, sondern Shylock wird. Kein Nathan mehr, der er meinte zu sein, durch Exil und Leid. Etwas zu sagen zu haben.
Plane eine Figur, ein Alter ego, der meinen Michael Templin aus "Der Verweser" weiterführt. Auch Tabori in seinem neuen Stück "Weismnann und Rothgdsicht" (Theater  Aalen, 50 Jahre Machtergreifung) bringt so eine Figur. Einen, der völlig von allen entblößt ist, wasLeben lebenswert macht, so Sterben als Erlösung erscheint. (Wäre es ausgesetzt auf offenem Meer. Und so entdeckt er völlig vom Selbstbild frei, daß er zwar schlimmes ertragen aber selbst auch schlimm ist. Nichts  mehr hält ihn. Verteidigt sich nicht mehr. Wird kleinmütig und böse, unsicher, ohnmächtig und aggressiv.

Illusionen und Märchen des Exils. Alles wird heute zerstört, auch dies. Emigrant in Pension. Alles in Pension. Utopie in Pension, Revolution in Pension, Glauben in Rente, Marx gestorben, alles hin. Und auch das ersehnte Zuhause in langen Jahren des Exils, banal. Des-Illusion total: der Kalte Krieg hat das Märchen der Trennung, damit der Sehnsucht, der falschen Heimaten geschaffen, der falschen Freiheiten, der falschen Leiden als wirkliche Leiden.

.. ohne sie alle bin ich verloren,
bin ein Niemand, bin nie geboren.

Chor: In S. schreit der arme Mann:
wenn du zurückkommst, denkst du, dann
ist alles wie früher! Nichts da,
das alles gehört der Vergangenheit an

drum sei vorsichtig, Bruder, gib acht.
So sieht es aus in deinem Land,
drum nimm endlich Abschied.

Du Luxusenigrant. Und du bist das Letzte.
Ja, wir sind wirklich die Letzten, Mann.
Das waren noch schöne Zeiten, einmal gebrannt
Als Kinder.


3.April
Pastior in Akzente 5/89 Palindrom und "Tunneleffekt", Heisenbergsche Unschärfe. Sprache genau auch ein "sprachliches Elementarteilchen", aber mit Überlichtegschwindigkeit. Der" Palindromtext testet den "locus amoebius" oder "Tunneleffekt", den sie gleichzeitig nutzen." Und testet "seine Analogie zum Scharnier. Wie beim Lesen eines Januskopfes, beispielsweise silbenmäßig: Kopfnuß, Januskopf."

            Der "locus amoebius" hat auch "jenseits seiner Barriere eine gewissen Aufenthaltswahrscheinlichkeit": Nie an einem bestimmten Ort, zeit-verschoben an einem zugleich.
            Hier Anknüpfung zum Atomereignis. Sprachgestöber?
KRANICHSTEIN 1989 (Vgl. dazu Briefe und Vorwort Vendg.kra

Ja, so war das damals gewesen, lang her und doch wie heute, auch wenn der Zustand heute ein ganz anderer ist.  Jann würde  sich sofort an die Piazza an der Kirche Santa Croce in Florenz erinnern: sie weiß es, wie ich es weiß und erinnere:  ich habe dazu keine Tagebuchnotiz, obwohl ich seit 68 regelmäßig Tagebuch führe und einen ganzen Kasten davon besitze,   habe ich die Szene nirgends mehr gefun­den, doch das Gedächtnis ist relativ genau: Wir traten damals aus der Kir­che ins Freie, eine Zi­geunerin bedrängte uns; wir wandten uns ab; als wir  unten an der Treppe standen, kam die Zigeunerin wieder, überreichte ze­remoniös den "gefundenen" Geldbeutel, und erhoffte Belohnung, die sie auch bekam; die Piazza war wie eine Stube, ein Hof mit fußballspielenden Kindern, Lie­bespaaren, Spaziergängern, tröstlich die Stimmen an jenem Nachmittag, der Platz umgeben von sienafarbenen Häusern. Und dabei fiel mir auch das sonnige Bischofgärtchen an der Nôtre Dame in Paris ein und die im Mondschein ballspielenden Kinder hinter dem Dom San Martino in Lucca. Es fällt mir ein Platz in Venedig ein, wo abends die Schritte auf dem Pfla­ster fern in einem sonderbaren Mauerecho hallten, und sich nur drei späte Spaziergänger flüsternd unterhielten, wie eine kurze Erleuchtung war der Augenblick, ein Widerschein der innern Außenwelt, die mit den Jahren in uns, in ihr, in mir gewachsen ist, und sogar damals in der Kirche Santa Croce, als ich gemeinsam mit ihr, und dies nicht zum ersten Mal, auf den toten und noch lebenden Christus des Cimabue gesehen hatte, war es auch eine gemeinsame Erinnerung, als ich den Blick mit hinausnahm auf den Platz. Und als wäre der Kreuzweg mitten in diesem Moment unseres Le­ben, wie ein Licht des Empyreums, das die Sekunden berührt.   
  Nach jenen Erinnerungsaugenblicken gingen wir in eine Tavola calda, und das Inferno begann, der Riß und Bruch, auch mit ihr, als wäre sie ganz plötzlich brutal zur Außenwelt geworden; und ich weiter innen geblieben, außen  ein Idiot, und nur und lächerlich.  Es mußte so kommen.   Ich versuchte natürlich, ihr aus dem Mantel zu helfen, fand aber den Klei­derhaken nicht, drehte mich ver­zweifelt im Kreis. Nur ruhig sagte sie. Ja, genau so war es auch: Nur ruhig, sagte sie, der Haken ist über deinem Kopf; blickte aufwärts, dort war der Haken, rasch den Mantel, und setzte mich aufatmend an den Tisch, setzte mich auf den Mantelsaum, riß den Mantel herab, sie kicherte, ich wurde unter dem Mantel vergraben, die Wut stieg in mir hoch. Was nimmst du, höre ich ihre Stimme von "draußen", sie kann sich das Lachen kaum ver­beißen. Der Kellner wartet, ich weiß.    Aber sonst bestellt ja sie, über meinen Kopf hinweg, warum heute diese Rücksicht? Doch ich wickelte und wickelte, vielleicht hatte sie das Mitleid gepackt für diesen Wickel­menschen, der aus sich nicht her­ausfindet. Verlegenheit und Unsicherheit, zu langsame Reflexe und man­gelhaftes "Auftreten" von zu Hause mitge­bracht; Klotz, du Trans­sylvan. Dabei ist Florenz doch eine Stadt voller Ticks und Psychopathen, aber der elegante Tick verlangt das selbstbe­wußte Auftreten, er ist nur mit erhobe­nem Kopf erlaubt, mit nonchalanten Gesten, nicht geduckt, gefangen und in Schweiß gebadet, verwirrt von Angst und Scham, sich lächerlich zu machen. Endlich hatte ich es ge­schafft. Nach einer Weile, wir hatten den Antipasto schon hinter uns, crostini warm, Leberpastete auf     geröstetem Brot, Gallo Nero, sah ich zum Nebentisch: da saß ein Menschenkoloß mit vornübergebeugtem Bi­berkopf, der Mann trommelte mit seinen Fingern matt auf dem Teller, in der anderen hielt er in Menschenfresserposition aufrecht die Gabel, er be­nahm sich also genau so, wie ihm zumute war. Er benimmt sich, wie ihm zumute ist, murmelte ich vorwurfsvoll in Richtung der Westdeutschen.
 
Ich spüre es heute auch. Zu­sammensein mit den andern, (sogar Luca rief ausgerechnet heute an) heute das Gespräch mit dem jungen Maler Ginannini, der unser Haus Decken etc, in Ordnung bringt, der "gefühlte Bilder" malt. Luca, der von einer "Entität" verfolgt wird, der gesammelten Energie der Realität, der "Trennung", wie er sagt, der ihm seine Evolutiion abschneiden will.




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